Körperliche Gewalt als Konsequenz der „Verrohung“ von Sprache?

Die abscheu­li­che Mes­ser­at­ta­cke vor­letz­ten Frei­tag auf den Islam­kri­ti­ker und Publi­zis­ten Micha­el Stür­zen­ber­ger und der Tod eines Poli­zis­ten in mei­ner Hei­mat­stadt Mann­heim haben nicht nur mich, son­dern über die Gren­zen Deutsch­lands hin­aus zurecht gro­ßes Ent­set­zen, viel Wut und Betrof­fen­heit aus­ge­löst. Es ist ein unbe­greif­li­cher Akt der phy­si­schen Gewalt. Denn auch auf ver­meint­li­che Grenz­über­schrei­tun­gen der Mei­nungs­frei­heit darf nie­mals kör­per­li­che Gewalt die Ant­wort sein, son­dern es soll­ten aus­schließ­lich juris­ti­sche Kon­se­quen­zen gezo­gen wer­den. Dies war somit ein­deu­tig ein Angriff auf die freie Mei­nungs­äu­ße­rung in unse­rer demo­kra­ti­schen Gesell­schaft. Mal wie­der. Denn lei­der reiht es sich in eine immer län­ger wer­den­de Lis­te von kör­per­li­chen Angrif­fen auf Politiker*innen und öffent­li­che Meinungsträger*innen bei uns in Deutschland.


Als Toch­ter eines Ex-Poli­zis­ten sind mei­ne Gedan­ken sofort bei den Ange­hö­ri­gen des getö­te­ten Beam­ten. Ich ken­ne das Gefühl der Sor­ge bei gefähr­li­chen Ein­sät­zen nur zu gut und es macht mich unglaub­lich trau­rig und wütend, wenn Men­schen ver­letzt wer­den oder sogar ihr Leben ver­lie­ren zum Schutz des Lebens anderer.


Und als Sprach­wis­sen­schaft­le­rin fra­ge ich mich – ist unse­re Spra­che im poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen zivi­len Umgang mit­ein­an­der end­gül­tig an ihre Gren­zen gesto­ßen? Sind Begrif­fe wie „Kampf­spra­che“, „Shit­s­torm“ oder „Hate­speech“ mitt­ler­wei­le so sehr All­tag, dass sie ihren eigent­lich mah­nen­den Effekt ver­lo­ren haben? Und ist kör­per­li­che Gewalt nun die unaus­weich­li­che Kon­se­quenz die­ser jah­re­lan­gen soge­nann­ten „Ver­ro­hung“ unse­rer Sprache?

 

Angriffe auf Politiker*innen

Erst letz­te Woche Sonn­tag wur­de von Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er an den CDU-Poli­ti­ker Wal­ter Lüb­cke gedacht – 5 Jah­re, nach­dem er vom Rechts­extre­mis­ten Ste­phan Ernst ermor­det wur­de. Uns allen ist mitt­ler­wei­le bewusst, dass sich kör­per­li­che Angrif­fe auf Politiker*innen, vor allem auf kom­mu­na­ler Ebe­ne, seit­dem mehr und mehr häu­fen. Zuletzt auf Rode­rich Kie­se­wet­ter von der CDU, wäh­rend einer Wahl­kampf­ver­an­stal­tung in Aalen. AfD-Poli­ti­ker Mario Kumpf wur­de vor kur­zem in Sach­sen in einem Super­markt ins Gesicht geschla­gen, Hein­rich Koch mit einem Mes­ser ver­letzt (das war auch hier in Mann­heim!). Fran­zis­ka Gif­fey, SPD-Wirt­schafts­se­na­to­rin in Ber­lin, wur­de jüngst in einer Biblio­thek von einem Mann mit einem har­ten Gegen­stand am Kopf ange­grif­fen und leicht ver­letzt. Bei einer Wahl­kampf­ver­an­stal­tung in Göt­tin­gen wur­de die nie­der­säch­si­sche Land­tags­ab­ge­ord­ne­te und Grü­nen-Poli­ti­ke­rin Marie Kol­len­rott atta­ckiert und leicht ver­letzt. Und erst vor einem Monat gab es den schwe­ren kör­per­li­chen Angriff auf den SPD-Poli­ti­ker Mat­thi­as Ecke in Dres­den, der ange­grif­fen wur­de, als er Wahl­pla­ka­te auf­hing … Lei­der ste­hen die­se Bei­spie­le nur reprä­sen­ta­tiv für eine ste­tig wach­sen­de Anzahl an Vor­fäl­len, vor allem auf Politiker*innen der Grü­nen und der AfD, egal wel­che extre­mis­ti­sche poli­ti­sche Aus­rich­tung die Täter*innen ver­fol­gen. Und eben­so wie­der­ho­len sich die öffent­li­chen Reak­tio­nen. Schärfs­te Ver­ur­tei­lun­gen, Mah­nun­gen, Auf­ru­fe zum zivi­len Wider­stand und zur Ver­tei­di­gung der frei­heit­li­chen Demo­kra­tie etc.


In den USA und in ande­ren Län­dern ist das schon lei­der seit vie­len Jah­ren an der Tages­ord­nung. Aber in Deutsch­land? Ich fra­ge mich ernst­haft – fin­den wir in unse­rer Spra­che wirk­lich kei­ne Ant­wort mehr auf die­se gesell­schaft­li­chen Flieh­kräf­te und die dar­aus eska­lie­ren­de Ent­wick­lung der kör­per­li­chen Gewalt? Ent­kräf­tet sich jeg­li­cher gesell­schaft­li­cher Dis­kurs durch die­se sich mitt­ler­wei­le wie­der­ho­len­den, gebets­müh­len­ar­ti­gen öffent­li­chen Reak­tio­nen? Denn nicht nur auf Sylt wird wei­ter­hin zu L’Amour Tou­jours „Aus­län­der raus“ gegrölt und in Ham­burg wur­de zum wie­der­hol­ten Male ein Kali­fat für Deutsch­land aus­ge­ru­fen. Trotz der mah­nen­den Wor­te aus der Öffent­lich­keit. Nur zwei Beispiele.


Schon 2017 ver­öf­fent­lich­te der Baye­ri­sche Leh­re­rin­nen und Leh­rer­ver­band (BLLV) das Mani­fest HALTUNG ZÄHLT. Prä­si­den­tin Simo­ne Fleisch­mann: „Wir Leh­re­rin­nen und Leh­rer beob­ach­ten mit Sor­ge die zuneh­men­de Aggres­si­vi­tät in der Spra­che und in den Umgangs­for­men. Nicht nur in der Schu­le, son­dern in vie­len Berei­chen des Lebens – in der Poli­tik, den Medi­en, in den sozia­len Netz­wer­ken. Wir beob­ach­ten, wie extre­me Grup­pie­run­gen und Per­so­nen den Boden berei­ten für Zwie­tracht und Gewalt. Das gefähr­det unse­re Demo­kra­tie.“ Dies ist nur ein Bei­spiel zahl­rei­cher Beob­ach­tun­gen, Stu­di­en und wis­sen­schaft­li­chen Ana­ly­sen dies­be­züg­lich in den letz­ten 10 Jahren.

Angriffe auf Wissenschaftler*innen

Und ja – nicht nur in der Poli­tik wird Spra­che gewalt­tä­tig miss­braucht. Auch die Wis­sen­schaft sieht sich bspw. mehr und mehr Anfein­dun­gen aus­ge­setzt. Und dabei han­delt es sich nicht nur um öffent­lich wirk­sa­me Ein­zel­fäl­le. In einem Arti­kel, erschie­nen im Janu­ar 2024 des Medi­cal Tri­bu­ne, spricht Julia Wandt (Ver­ant­wort­li­che für den Geschäfts­be­reich Wis­sen­schafts­kom­mu­ni­ka­ti­on und Stra­te­gie im Rek­to­rat der Uni Frei­burg) über die zuneh­men­den Angrif­fe auf Wissenschaftler*innen. Hier ein Aus­zug aus dem Arti­kel „Wenn Men­schen aus der For­schung ange­grif­fen wer­den“, der mir Sor­ge berei­tet: „Eine Unter­su­chung der Hein­rich-Hei­ne-Uni­ver­si­tät Düs­sel­dorf von 2023 bestä­tigt die Ten­denz. Zwei Drit­tel der über 8.000 befrag­ten For­schen­den aller Fach­rich­tun­gen hiel­ten öffent­li­che Anfein­dun­gen für eine ernst­haf­te Bedro­hung der Wis­sen­schaft. Auch hier: Gefragt nach ihrer Absicht, sich in abseh­ba­rer Zukunft öffent­lich zum eige­nen Fach zu äußern, wink­te knapp die Hälf­te der Befrag­ten ab. Je mehr jemand fürch­te­te, selbst Opfer von Anfein­dun­gen zu wer­den, des­to klei­ner war die Bereit­schaft, sich medi­al zu äußern.“ (Medi­cal Tri­bu­ne). Ich fin­de, dies zeigt erneut deut­lich, wie sehr die Mei­nungs­viel­falt allein schon durch ein­schüch­tern­de Spra­che bedroht wird. Auch ich habe schon viel­fach ent­spre­chen­de Hass-Kom­men­ta­re, Nach­rich­ten oder phy­si­sche Brie­fe bis hin zum Stal­king erhal­ten … Sind also bald kör­per­li­che Angrif­fe auch in der Wis­sen­schaft eine unaus­weich­li­che Konsequenz?


2022 nahm auch der Deut­sche Sprach­rat Stel­lung zu den The­men „Hass­re­de“, „Ver­ro­hung“ der Spra­che und „poli­ti­sche Inkor­rekt­heit“. „Es ent­steht der Ein­druck, dass Erfor­der­nis­se einer situa­tions- und adres­sa­ten­ge­rech­te Spra­che durch Schnel­lig­keit, Medi­en­viel­falt und Ver­net­zung zurück­ge­drängt wer­den. Dies kann zur Fol­ge haben, dass auch Hem­mun­gen ent­fal­len, Gren­zen im Mit­ein­an­der ein­zu­hal­ten.


Die­se Gren­zen sind in der Poli­tik nun offen­sicht­lich end­gül­tig über­schrit­ten wor­den – und damit als Gesell­schaft auch der Rubi­kon? Das fra­ge ich mich heu­te. Zählt also Hal­tung nichts mehr, wenn sie eh sofort mit Gewalt erstickt wird, statt mit Argu­men­ten konfrontiert?


Als Sprach­wis­sen­schaft­le­rin und lin­gu­is­ti­sche Unter­neh­mens­be­ra­te­rin sehe ich immer auch die Poten­tia­le von Spra­che – wis­sen­schaft­lich wie prak­tisch – und wie Men­schen wie auch Orga­ni­sa­tio­nen sich durch sie trans­for­mie­ren kön­nen. Und zwar auf dem Weg zu MEHR Gerech­tig­keit und gegen­sei­ti­gem Ver­ste­hen. Dafür arbei­te ich, um durch Spra­che zukunfts­fä­hi­ge Lösun­gen zu fin­den für ein bes­se­res Ver­ständ­nis zwi­schen Men­schen. Also: was hilft uns da im öffent­li­chen Dis­kurs? Gibt es denn dort über­haupt noch einen Dis­kurs, oder nur noch gefes­tig­te und vor­ge­fer­tig­te Mei­nun­gen? Und ist das ein­fa­che Wider­spre­chen dann mitt­ler­wei­le sogar schon auf der Ebe­ne der Zivil­cou­ra­ge? Vor allem, wenn man sich immer mehr poten­zi­el­ler kör­per­li­cher Gewalt aus­setzt? Wer traut sich dann noch wirk­lich, die eige­ne Mei­nung zu äußern?

 

Now what?

Hier ein paar Beob­ach­tun­gen und Ideen, die viel­leicht etwas Hoff­nung machen:

  1. Spra­che kann mei­ner Mei­nung nach nicht lang­fris­tig geka­pert wer­den. Bei­spiel gefäl­lig? Die media­le Gegen­be­we­gung zu den Syl­ter „Aus­län­der raus“-Gesängen wur­de in den sozia­len Medi­en schnell zu „Nazis raus“ umge­dich­tet — und kräf­tig mit­ge­sun­gen und gepos­tet. Eine krea­ti­ve und, wie ich fin­de, wirk­sa­me Mög­lich­keit, öffent­lich zu wider­spre­chen. Und das als Kol­lek­tiv. Mei­ner Mei­nung nach zeigt dies gut, wie schnell Begrif­fe und Phra­sen auch anders besetzt wer­den kön­nen. Immerhin!
  2. Ich fin­de Bera­tungs­stel­len wie Sci­comm-Sup­port (Initia­ti­ve für mehr Kapa­zi­tä­ten und Kom­pe­ten­zen im Umgang mit Hass­re­de und Wis­sen­schafts­feind­lich­keit) oder der Wei­ße Ring (Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on für Kri­mi­na­li­täts­op­fer, u. a. bei Stal­king), der mich damals betreut hat, wirk­lich essen­zi­ell. Denn sie geben nicht nur Ori­en­tie­rung, wie sich Men­schen in einem kon­kre­ten Fall von Anfein­dun­gen ver­hal­ten sol­len – auch juris­tisch. Auch, um kör­per­li­che Gewalt zu ver­mei­den. Denn die Jus­tiz ist das letzt­end­lich ent­schei­den­de Organ in einem Rechts­staat. Recht­li­che Schrit­te kön­nen aber ganz schnell über­for­dern, vor allem in der Zivil­be­völ­ke­rung. Des­halb sind Bera­tungs­stel­len mei­ner Mei­nung nach eine gro­ße Unter­stüt­zung. Sie erlau­ben zudem eine psy­cho­lo­gi­sche Betreu­ung, und wenn auch nur durch das Ver­net­zen von Betrof­fe­nen. Das darf nicht unter­schätzt wer­den, fin­de ich. Gemein­schaft stärkt. Ger­ne mehr davon, in allen gesell­schaft­li­chen Bereichen!
  3. Bei allem Wider­stand – wir brau­chen schluss­end­lich den gemein­sa­men Dia­log. Den sprach­li­chen Aus­tausch mit­ein­an­der. Das erle­be ich täg­lich. Und ich bin über­zeugt, dass uns immer mehr ver­bin­det, als uns trennt. Und nur so fin­den wir schluss­end­lich als Gesell­schaft wie­der zusam­men. Indem wir uns gegen­sei­tig wie­der empa­thisch zuhö­ren und ver­ste­hen. Die­ses Prin­zip set­ze ich auch in mei­ner Arbeit erfolg­reich ein. Die Geschich­te der Mensch­heit hat bis­her lei­der noch kei­ne wirk­sa­me Alter­na­ti­ve hier­zu her­vor­ge­bracht, dass Men­schen sich wie­der „ver­tra­gen“; es endet meist in phy­si­scher Gewalt, Krieg oder ande­ren patri­ar­cha­len Macht­miss­bräu­chen. Das macht mich sehr trau­rig – und auch des­halb habe ich mich von vie­lem abge­wandt. Was also als Indi­vi­du­um in einem „fal­schen Sys­tem“ tun (ADORNO lässt grü­ßen, wenn ich auch in vie­lem nicht zustim­me, was er sag­te oder tat …) Der wirk­sams­te Dis­kurs beginnt mei­ner Mei­nung nach tat­säch­lich im pri­va­ten Umfeld. Ja – es ist super her­aus­for­dernd, wenn unter­schied­li­che Ansich­ten in Fami­lie, Freund­schaf­ten oder Part­ner­schaf­ten bestehen – aber das ist die Idee von Plu­ra­li­tät und Diver­si­tät. Das ist manch­mal echt anstren­gend und ich sage das bewusst so, da in mei­nem Sys­tem alle Mei­nun­gen exis­tie­ren … Doch viel­leicht ist die Geduld mehr und die Hemm­schwel­le höher als zwi­schen sich ver­meint­lich Frem­den. Und wir alle kön­nen uns da ein­brin­gen. Viel­leicht ein Anfang?

 

Quellen