Ein Gastbeitrag von Ina Ferber
Ina Ferber ist Expertin für Diversity-Recruiting. Sie ist Speakerin, Trainerin und Personalberaterin für Diversity-Executive-Search.
Dieser Beitrag ist zuerst im Blog EMPLOYERREPUTATION der Ferber Personalberatung erschienen.
Mir platzt der Kragen…
Auf Twitter wird gerade aufgebracht darüber diskutiert, ob der Begriff „Sub-Sahara“ rassistisch ist. „16 junge Menschen und Frauen bestehen die Prüfung für Bankkaufleute in Alfeld“ titelt angeblich eine Tageszeitung, und selbst journalistisch gebildete Menschen teilen diesen quellenlosen Screenshot seit mindestens 6 Jahren immer wieder; Mülleimer auf Herrentoiletten in Sachsen werden zum Lacher des Tages. Eine hitzige Debatte dreht sich darum, ob die Frage nach der Herkunft rassistisch ist. Auch die HR-Szene bleibt von den Aufregungen nicht verschont. So wird viel Energie darauf verwendet, Alternativen zum (m/w/d)-Anhängsel am Jobtitel in Stellenanzeigen zu entwickeln, und auch HR-Blogger-Kollegen machen sich gerne über gendergerechte Sprache lustig:
Genderquatsch mit Stellenanzeigen: Der Kaufmensch https://t.co/gMr9QLsO5I pic.twitter.com/agLMAAmho4
— Henner Knabenreich | #personalmarketing2null🧐 (@pm2null) October 23, 2019
…weil Aufreger ernsthafte Diskussionen verdrängen.
Ich finde gendergerechte und politisch korrekte Sprache durchaus wichtig. Denn ich bin überzeugt, dass Sprache wirkt, und dass aus Sprache Handlungen werden. Doch die Aufreger ersetzen oft die Diskussion über andere handfeste Maßnahmen, die wir dringend benötigen. Ich würde jederzeit ein paar Gendersterne abgeben, wenn wir dafür das Ehegattensplitting abschaffen würden, was umgehend zu mehr Gleichstellung in den Familien und in der Folge zu mehr Gleichstellung im Beruf und in der Altersvorsorge führen würde. Oder wenn wir alle Karrierewebseiten und Online-Bewerbungsverfahren 100% barrierefrei gestalten würden. Oder unser Bildungssystem von Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft befreien würden…
…weil hämisches Desinteresse auf akademische Abgehobenheit trifft.
Viele Kritiker:innen, die das Gendern lächerlich machen, wissen nicht, was mit dem Begriff „nichtbinäres Geschlecht“ gemeint ist. Der Gedanke, dass Menschen sich nicht ausschließlich männlich oder weiblich identifizieren, ist vielen vollkommen fremd. Oder sie finden es überflüssig, ein paar Prozent der Bevölkerung sprachlich zu berücksichtigen. Deswegen reagieren sie mit Häme auf manchen sperrigen Versucht, alle Geschlechtsidentitäten in der Formulierung zu berücksichtigen (z.B. hier im Jobtitel „Kaufmensch“).
Auf der anderen Seite steht der Ansatz von Menschenrechtsaktivist:inne, Akademiker:innen und Diversity-Management-Expert:innen, die den Gender-Stern (oder Doppelpunkt) als Symbol für nicht binärer Geschlechtsidentität verstehen. Wer diesen Ansatz vertritt, findet Formulierungen, die zwei Geschlechter berücksichtigen (z.B. „Kolleginnen und Kollegen“), unzureichend, weil diese nicht alle Geschlechter einschließen. Mir würde es gut gefallen, wenn wir als Gesellschaft darüber einig wären, alle Geschlechter sprachlich gleich zu behandeln.
Leider sind wir weit entfernt von Einigkeit. Kritiker:innen, die sich über „Genderquatsch“ auslassen und eine eher akademische Diskussion um gendergerechte Sprache nicht kennen, suchen nicht nach Informationen zum nicht-binären Geschlecht, um ein besseres Verständnis aufzubauen. Doch genauso verhaken sich Gendersprachaktivist:innen in Details und unhandlichen Formulierungen, die nur noch von Expert:innen verstanden werden. Sie verfeinern und erweitern munter Regeln der political correctness, ignorieren, wie fremd die Perspektive für viele ist, landen gerne mal in Elfenbeintürmen und tragen ganz und gar nicht zu einer gesellschaftlichen Einigkeit bei. So verharren beide Seiten in ihrer jeweiligen (Social-Media-)Blase, und die Blasen driften immer weiter auseinander.
…weil nicht in guten Lösungen gedacht wird.
Und weil die Blasen immer weiter auseinanderdriften, wird nicht in Lösungen gedacht. Ein Beispiel: Unisex-Toiletten und Bindeneimer auf Herrentoiletten werden zum Politikum. Mal werden die Forderungen einfach verlacht, mal werden die Rechte von Trans- und Intersexuellen gegen den Schutz von Frauen vor (sexualisierter) Gewalt ausgespielt. Die Alternative, ganz auf Gemeinschafträume zu verzichten und Einzelkabinen mit kleinen Waschbecken, Spiegeln und Mülleimern zu gestalten, kommt in der Diskussion gar nicht vor. Obwohl wir alle diese Lösung aus netten kleinen Cafés und Restaurants kennen, die keinen Platz für großzügige Gemeinschafts-Toilettenvorzimmer haben. Wir diskutieren Aufreger, statt Lösungen zu suchen.
…und weil ich Empathie vermisse.
„Darf ich jetzt nicht mehr…?“ ist ein typischer Aufschrei. „Darf ich jetzt nicht mehr „Schwarzafrika“ sagen?“ „Darf ich jetzt nicht mehr „Wo kommst Du her?“ fragen?“ Dazu noch der Ausruf „Ich weigere mich…“ meist folgt etwas wie „… die Deutsche Sprache zu verhunzen!“ (Da frage ich mich dann oft, wo diese Menschen eigentlich waren, als die Rechtschreibreform 1996 kam, die dann wiederum mehrfach reformiert wurde.)
Politisch korrekte und gendergerechte Sprache ist als ein Mittel gegen Diskriminierung entstanden. Es geht darum, Menschen nicht zu verletzen[1]. Und ich würde mir wünschen, dass Befürworter und Gegner nicht mehr über „Darf ich…“ diskutieren. Stattdessen können wir die Menschen, die uns begegnen fragen, ob es Themen oder Worte gibt, die sie verletzend finden. So können wir Gedankenlosigkeit und Aufreger durch empathische Aufmerksamkeit ersetzen.
Deswegen werde ich jetzt persönlich…
Erlebt habe ich nämlich beides, die empathische Aufmerksamkeit und die gedankenlose Ausgrenzung.
Empathische Aufmerksamkeit habe ich z.B. erlebt, als ich 2004 in den USA war, lange vor Trump und Tea Party, als political correctness in den USA sehr stark und in Europa eher selten war. Dort war ich für ein MBA-Studium. Eine Kommilitonin wollte etwas darüber erfahren, wie es ist, lesbisch in den USA und in Deutschland zu leben. Das Gespräch begann sie mit der Frage „May I say „lesbian“?“, auf Deutsch „Darf ich „Lesbe“ sagen?“. Eine kleine, einfache Frage. Ja, „Lesbe“ ist total okay, aber wäre es für mich – nicht für eine abstrakte politische Öffentlichkeit, sondern nur für mich ganz persönlich – nicht okay gewesen, dann hätte dieser Einstieg in das Gespräch jedes Missverständnis ausgeräumt.
Gedankenlose Ausgrenzung habe ich dann ein Jahr später bei meiner Rückkehr nach Deutschland erlebt. Ich war gerade frisch in meinem schwer erkämpften Job bei einer renommierten kleinen Strategieberatung in der Probezeit, in einer für mich neuen Branche. Der Geschäftsführer lud alle Berater zu einem Lunch ein. Den Anlass habe ich schon vergessen. Ich war die einzige Frau am Tisch. Wir saßen eine Stunde zusammen. Der Geschäftsführer erzählte ein Stunde lang Frauenwitze. Einen unangenehmen Witz nach dem anderen. Ich war eine Stunde lang in der Klemme: Sage ich etwas, bin ich die unangenehme Emanzen-Zicke. Sage ich nichts, bin ich die unsichere, wenig durchsetzungsfähige Neue, die sich alles gefallen lässt.
…und fordere empathische Aufmerksamkeit statt Gedankenlosigkeit oder Ideologie.
Wäre es nicht schön, wenn wir alle, und ganz besonders wir Personaler:innen, Recruiter:innen und Führungskräfte, einfach häufiger aufmerksam nachfragen würden? Ein paar Beispiele, wie das aussehen könnte: Wenn wir eine Bewerberin am Telefon haben, deren maskulin klingende Stimme verunsichert, dann können wir fragen, ob die Anrede „Frau …“ für sie die richtige ist. Wenn wir nicht sicher sind, welches Gendersymbol am ehesten barrierefrei ist, dann können wir schauen, was Blogger, Twitterer und Verbände von Sehbehinderten dazu sagen, welche Variante am besten von Readern ausgelesen wird. Wenn wir nicht wissen, ob die neue Kollegin es okay findet, nach Ihrer Herkunft gefragt zu werden, dann können wir sie fragen, wie sie persönlich zur Diskussion um die Herkunfts-Frage steht. Aufmerksame Fragen sind ein gutes Mittel, um Aufreger, Gedankenlosigkeit und Ideologie mit Empathie zu ersetzen. Auf geht’s!
Viel zu anstrengend? Viel zu verkrampft?
Unbewusste und bewusste Vorurteile, Ausgrenzung und Gedankenlosigkeit sind leider menschlich. Sie sind so menschlich, dass wir jederzeit ganz entspannt, ganz ohne Anstrengung, oft unbewusst, andere Menschen ausgrenzen und verletzen können. Ändern können wir das nur gezielt und vorsätzlich, und das kann aufwendig sein und sich verkrampft anfühlen:
Um Organisationen und Unternehmen zu gestalten, die eine breite Vielfalt von Menschen einladen, braucht es Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, um Wissen über unterschiedliche Diversity-Gruppen und deren Bedürfnisse aufzubauen und um mit diesem Wissen neue Wege zu finden.
Um als Personaler:in, als Führungskraft oder einfach als Mensch anderen ohne Diskriminierung und Ausgrenzung zu begegnen, braucht es Willen, Selbstreflektion und Anstrengung, um das eigene Verhalten zu hinterfragen und eine neue Offenheit zu finden.
Ja, das anstrengend, und wie! Also ich finde das anstrengend. Ich finde das verkrampft. Ich finde es nicht intuitiv und ganz und gar nicht entspannt. (Und konsequent bin ich auch oft nicht.) Doch das ist es mir wert. Ich strenge mich an, damit unsere Sprache, unser Zusammenarbeiten, unser Zusammenleben etwas diskriminierungsfreier wird. Ich finde es fantastisch, dass immer mehr Menschen diese Anstrengung unternehmen. Machen Sie mit?
Und die Angst, etwas Falsches zu sagen?
Empathisches, aufmerksames Nachfragen wagen gerade diejenigen oft nicht, die niemand verletzen wollen. Manche befürchten, dass schon eine Frage zu einem möglicherweise aufgeladenen Thema als diskriminierend empfunden wird. Andere fürchten, dass sie den aktuell politisch korrekten Ausdruck nicht kennen und mit der „falschen“ Wortwahl einen Konflikt auslösen könnten. Das ist verständlich, denn in der Diskussion um political correctness entwickeln sich die Begriffe permanent und oft sehr unterschiedlich weiter. Manchmal entsteht ein Konsens, dass bestimmte Wörter diskriminierend und untragbar sind, z.B. das N‑Wort. Manchmal wird bewusst ein (ehemaliges?) Schimpfwort von Menschrechtsbewegungen positiv besetzt, z.B. das Wort „schwul“. Auch herrscht innerhalb einer Diversity-Gruppe oft Uneinigkeit darüber, welche Ausdrücke positiv oder negativ besetzt sind. Und immer und immer wieder gibt es unerwartete oder abgegriffene Diskussionen, und die Sprache wird ständig neu hinterfragt.
Was können Sie tun, wenn diese Sorge Sie umtreibt? Sich zurücknehmen, und sich gleichzeitig darüber ärgern, dass „man nichts mehr sagen darf“?
Wie oben erwähnt: Ja, es ist anstrengend. Denn gegen diese Sorge hilft nur Wissen und Übung, weil empathisches, aufmerksames Nachfragen besser mit Vorwissen gelingt. Das möchte ich am Beispiel „Anrede“ erklären: Angenommen, Sie treffen auf eine:n Gesprächstpartner:in, deren Geschlecht Ihnen unklar ist. Sie sind unsicher, welche Anrede Sie wählen sollen und wissen nicht, ob und wie Sie danach fragen können. Wenn Sie sich bereits damit beschäftigt habe, dass Anrede oder Personalpronomen nicht mit dem biologischen oder scheinbar offensichtlichen Geschlecht übereinstimmen müssen, und wenn Sie sich damit vertraut gemacht habe, dass viele Menschen aktiv ihr bevorzugtes Personalpronomen nennen, dann können Sie entspannt fragen, welche Anrede Ihr:e Gesprächstpartner:in bevorzugt. Und je häufiger Sie bewusst und empathisch aufmerksam nachfragen, umso geübter, entspannter und natürlicher gelingt Ihnen das.
Und übrigens, Gendern ist noch kein Diversity-Management!
Was oft vergessen wird: Gendern ist kein Diversity-Management. Und vielleicht überrascht es manche Leser:in, wenn ich als Diversity-Recruiterin sage: Gegenderte Stellenanzeigen führen nicht zu mehr Bewerbungen von Frauen.
Gendergerechte und politische korrekte Sprache bedeutet, dass wir keine verletzenden Worte verwenden und keine Gruppe sprachlich ausgrenzen. Die Abwesenheit von sprachlicher Ausgrenzung ist noch keine Einladung. Gutes Diversity-Management braucht viel mehr, u.a. eine gute Diversity-Management-Strategie, Vorbilder im Senior Management, Kompetenz, Kreativität, Entschlossenheit, Budgets uvm. Wie wirkungsvolles Diversity-Management aussehen kann, zeigen beispielsweise die Erfolgsgeschichten, die die Charta der Vielfalt hier vorstellt.
[1] Meine treuste Kritikerin hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich an dieser Stelle vernachlässigt habe, dass es in der Weiterentwicklung der Sprache auch darum geht, dass Menschen sichtbar sein wollen. Diversity-Gruppen, die in unserer Sprache nicht vorkommen, erleben Nachteile und fühlen sich ausgegrenzt. Auch das ist verletzend. Vielleicht wird das der nächste Blogartikel…