Der Wandel der Geschlechterverhältnisse ist besonders auf dem Arbeitsmarkt sichtbarer denn je. Das Zukunftsinstitut in Hamburg spricht seit 2012 vom Megatrend des Female Shift (inzwischen Gender Shift).
Doch was oft abgeschlossen scheint, drückt sich noch immer in bestehenden Ungleichheiten, Denkmustern und Diskriminierungserfahrungen aus – die teilweise sogar verstärkt werden. Der sogenannte Backlash-Effekt bezeichnet Versuche, emanzipatorischen Bewegungen entgegenzuwirken, um den Status Quo zu erhalten. Dieser geht oft mit einer Reaktanz einher, die sich darin äußert, dass neue Werte oder Handlungen – wie beispielsweise eine gendergerechte Sprache – als Einschränkung oder Verbot empfunden werden.
Es wird außerdem mehr und mehr deutlich: Nur die Kategorie „Geschlecht“ zu betrachten, reicht nicht aus. Diskriminierungskategorien dürfen nicht unabhängig voneinander betrachtet werden, das macht das erst kürzlich beschlossene Kopftuchverbot von Beamtinnen am Arbeitsplatz erneut deutlich. Es ist ein Unterschied, als „Frau“ gesehen zu werden, oder als „Frau mit Kopftuch“, da aus diesen Betrachtungen unterschiedliche Zuschreibungen entstehen. Wenn zwei Diversitäts- und potentielle Diskriminierungskategorien zusammentreffen (im Fall des Kopftuchverbots: Geschlecht und Religion), sprechen wir von “Intersektionalität”. Feminismus funktioniert nur, wenn alle Frauen und nicht-binären Menschen und ihre Hintergründe mitgedacht werden und Männer ebenfalls von den veränderten Rollenverständnissen profitieren. Noch nie war Intersektionalität wichtiger als jetzt.
In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts stand die zweite Welle des Feminismus ganz im Zeichen von Frauenrechten, Antidiskriminierung von Müttern und der Loslösung von traditionellen Rollenbildern, sie betonte damit aber auch die Zweiteilung der Geschlechter. Die aktuelle dritte Welle der feministischen Bewegung hat erkannt: Feminismus ist weiblich, männlich, nicht-binär, queer, bunt, laut, inklusiv – kurz: divers. Um Diversität in der Praxis zu ermöglichen, müssen Denkmuster und Bias in Bezug auf verschiedene Diskriminierungskategorien in den Blick genommen werden.
Die zwei vergessenen Dimensionen von Diversity
Meist werden im öffentlichen Diskurs oder in Arbeitskontexten nur die sechs Dimensionen von Diversität unterschieden, die das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz benennt (AGG): Alter (1), Geschlecht (2), sexuelle Orientierung (3), ethnische Herkunft (4), Behinderung (5), Religion und Weltanschauung (6). Zwei Dimensionen, die oft vergessen werden, die aber für die Zukunft des Arbeitens und unserer Gesellschaft nicht weniger relevant sind, betreffen zum einen fachliche und zum anderen mentale Diversität.
Fachliche Diversität heißt, verschiedene Biografien und Fachrichtungen mitzudenken und anzuerkennen. Geisteswissenschaftler:innen oder Menschen, die aus einem nicht-akademischen Haushalt kommen, können ganz unterschiedliche Perspektiven und damit auch neue Ideen und Lösungsansätze in ein Unternehmen einbringen. Sie entsprechen allerdings häufig nicht den Kategorien, die für eine Position angedacht ist, und werden im Recruiting nicht berücksichtigt. Sozialsysteme, die Akademiker:innenkindern geläufig sind, wie finanzielle Bildung oder Eloquenz und Extrovertiertheit im Netzwerken, sind für nichtprivilegierte Gruppen häufig Neuland, die in der beruflichen Entwicklung erst erlernt werden müssen.
Mentale Diversität bedeutet, Unterschiede in der mentalen Verfassung von Menschen zu normalisieren und nicht in „psychisch krank“ und „psychisch gesund“ zu unterteilen. Hier spreche ich auch aus eigener Erfahrung: Meine sogenannte „Angststörung“, über die ich schon oft öffentlich gesprochen habe, ist ein Teil von mir und eine wichtige Ressource. Inzwischen weiß ich sie als Katalysator für meine Kreativität auch beruflich einzusetzen. Ob Unterschiede in der mentalen Verfassung als „Störung“ oder nur als spezifische Organisation des gedanklichen Systems behandelt werden, ist eine Frage der Haltung. Auch Menschen auf dem autistischen Spektrum müssen stärker berücksichtigt werden. In der Bereitstellung von Arbeitsplätzen, die auf neurodivergente Menschen zugeschnitten sind, ist beispielsweise SAP mit dem seit 2013 bestehenden Programm „Autism at Work“ Vorreiterin.
Auch die Kategorien Introversion und Extraversion fasse ich unter mentale Diversität. Die aktuelle Arbeitswelt sucht besonders nach extravertierten Menschen, die „laut“ sind und Eigenschaften wie „durchsetzungsfähig“ und „aufgeschlossen“ aufweisen. Für Introvertierte, deren Beiträge und Ideen weniger Anerkennung finden, ist das ein Problem. Dabei sind Introvertierte bessere Zuhörer:innen, treffen Entscheidungen auf der Grundlage von mehr Informationen und fördern Kooperation statt „survival of the loudest“. Wenn die Unternehmenskultur nur auf Extrovertierte ausgerichtet ist, gehen wichtige Ideen und Perspektiven verloren. Es braucht diversere Angebote für unterschiedliche Persönlichkeitstypen, damit die Arbeit aller sichtbar wird und in ihren Inhalten, anstatt in ihrer Lautstärke beurteilt werden kann. Dazu gehört besonders die Freiheit in der Einteilung von Arbeit: morgens, mittags, Abends, im Home Office oder vor Ort, im Großraum- oder Einzelbüro, analog oder digital, mit einer langen oder vielen kurzen Pausen oder Unterbrechungen, mit Zugang zu vegetarischem Essen oder Currywurst, Auto oder Fahrrad (hoffentlich letzteres), Meetings oder Einzelgesprächen, Weiterbildung oder Yoga-Abo, Sprachkurs oder Netflix-Zugang – die Arbeitstypen sind so unterschiedlich wie wir selbst.
Um in Unternehmen und Organisationen eine Kultur zu schaffen, die Diversität, verschiedene Perspektiven und auch mal Dissens, zulässt, braucht es ein Anknüpfen bei Sprache. Sprachverarbeitung läuft zum größten Teil unterbewusst ab, deshalb ist es besonders wichtig, die Wirkung von Sprache zu betrachten und offenzulegen. Durch eine gezielt eingesetzte Sprache kann mehr Diversität geschaffen und Vorurteilen entgegengewirkt werden. Denn noch immer bergen 20% der Stellenanzeigen ein Diskriminierungsrisiko. Besonders Adjektive und Substantive transportieren Stereotype, die dazu führen, dass sich manche Personen nicht angesprochen fühlen und sich gar nicht erst auf eine Position bewerben. So bringt es auch die Autorin Kübra Gümüşay in ihrem Buch „Sprache und Sein“ auf den Punkt: