Soziale Herkunft – der unsichtbare Diversitäts-Faktor

Ein Gastbeitrag von Hannah Kaufhold

Ein Gastbeitrag von Hannah Kaufhold 

Han­nah Kauf­hold ist Mar­ke­ting-Mana­ge­rin bei Con­gree und hegt eine Lei­den­schaft für die The­men Diver­si­ty, Inklu­si­on und deren sprach­li­che Realisierung.

Die sozia­le Her­kunft einer Per­son ist unsicht­bar und daher schwer greif­bar. Sie ist eine der am wenigs­ten beach­te­ten Diver­si­ty-Kate­go­rien. Erst seit kur­zem wird die­se Kate­go­rie neben Fak­to­ren wie Geschlecht, sexu­el­ler Ori­en­tie­rung oder Behin­de­rung Beach­tung im Diver­si­ty-Dis­kurs dis­ku­tiert. So wur­de sie auch kürz­lich (Janu­ar 2021) erst als sieb­te Diver­si­ty-Dimen­si­on in die Char­ta der Viel­falt aufgenommen.

 

Sozia­le Her­kunft ent­schei­det über Bil­dungs­chan­cen und kann sich als ent­schei­den­der Fak­tor durch kom­plet­te Bil­dungs­we­ge bis in die Aka­de­mia zie­hen. 

So auch bei mir: Mei­ne ers­ten Erfah­run­gen mit sozia­ler Diver­si­tät habe ich schon früh gemacht – lan­ge, bevor sie mir als Kate­go­rie von Diver­si­tät bewusst war. Ich war in mei­ner Her­kunfts­fa­mi­lie die Ers­te am Gym­na­si­um und an der Uni­ver­si­tät. Mei­ne Eltern haben mir alles ermög­licht und mich geför­dert, wofür ich sehr dank­bar bin. Wäh­rend der Schul­zeit habe ich schon rela­tiv früh gemerkt, dass es da struk­tu­rel­le Unter­schie­de gibt. Vie­le Mitschüler:innen am Gym­na­si­um wuss­ten bereits ganz früh, dass sie nach dem Abitur stu­die­ren wür­den. Für deren Eltern war bereits klar, dass ihre Kin­der eben­falls Akademiker:innen wer­den wür­den. Das nur als Bei­spiel. 

 

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – oder?

 

Retro­spek­tiv wür­de ich sagen, dass sich der Fak­tor sozia­le Her­kunft in vie­len Fäl­len die Grund­satz­fra­ge „Stu­di­um oder Aus­bil­dung“ bestimmt oder zumin­dest beein­flusst hat. Die empi­ri­sche For­schung belegt die­sen per­sön­li­chen Ein­druck. Es wird von einem so genann­ten „Bil­dungs­trich­ter“ gespro­chen. Das bedeu­tet im Wesent­li­chen: Wenn die Eltern Akademiker:innen sind, ist es wahr­schein­lich, dass ihre Kin­der eben­falls stu­die­ren wer­den – wäh­rend Nicht-Akademiker:innen-Kinder nur zu 27 % ein Stu­di­um auf­neh­men.

 

Ich selbst gehö­re also zu den 27 %. Stu­diert habe ich Lin­gu­is­tik. Die ers­ten Wochen an der Uni haben sich wie ein Leben in einer Par­al­lel­welt ange­fühlt. Ich hat­te kei­ne Ahnung von „der Ersti­wo­che“, ich habe die Unter­schie­de zwi­schen den Ver­an­stal­tungs­ty­pen nicht grei­fen kön­nen und hat­te irgend­wie per­ma­nent das Gefühl, „unwür­dig“ zu sein, stu­die­ren zu dür­fen. Stu­die­ren war ein rie­si­ges Pri­vi­leg für mich. Mei­ne Kommiliton:innen waren viel abge­klär­ter als ich. Als ob sie wüss­ten, wie der Start an der Uni abläuft. Ganz ehr­lich: Ich hät­te das Stu­di­um anfangs fast wie­der hin­ge­schmis­sen, so ver­lo­ren habe ich mich gefühlt. Zum Glück hat mich eine Bekann­te an die Hand genom­men, die im 4. Semes­ter war.

 

Übri­gens gibt es auch zwi­schen der sozia­len Her­kunft und der Fächer­wahl im Stu­di­um Zusam­men­hän­ge. Zum Bei­spiel ten­die­ren Kin­der von Akademiker:innen sta­tis­tisch betrach­tet dazu, das Fach, die Arbeit ihrer Eltern wei­ter­zu­tra­gen. Das gilt beson­ders für Medi­zin und Jura. Zum ande­ren lässt sich empi­risch bele­gen, dass der Anteil von Stu­die­ren­den ohne Akademiker:inneneltern in den Geis­tes- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten am höchs­ten ist. 

 

Soziale Verhältnisse und Rollenbilder in der Studienfachwahl

 

Und wo wir gera­de bei der Fächer­wahl sind: Neben dem sozia­len Hin­ter­grund spielt hier auch das Geschlecht eine Rol­le, zumin­dest legt das die Sta­tis­tik nahe. Geis­tes- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten gel­ten als Frau­en­fä­cher, wäh­rend Män­ner ten­den­zi­ell eher im Bereich Tech­nik ver­tre­ten sind. In Fächern wie Mathe­ma­tik ist das Geschlech­ter­ver­hält­nis aus­ge­gli­chen (ebd.). Über­spitzt aus­ge­drückt, wohl wis­send, dass es da natür­lich nicht nur Schwarz und Weiß gibt: Män­ner stu­die­ren Fächer, die spä­ter mög­lichst gut bezahlt sind, Frau­en ten­die­ren oft zu Fächern, die einen weni­ger gut bezahl­ten, aber mög­li­cher­wei­se krea­ti­ven oder sozia­len Beruf ver­spre­chen. Die Grün­de hier­für sind viel­fäl­tig. Zuschrei­bun­gen bereits an klei­ne Kin­der (Mäd­chen = krea­tiv, hilfs­be­reit; Jun­gen: kör­per­lich, ana­ly­tisch) sind einer davon.  

 

Letzt­end­lich lässt sich die Ver­mu­tung auf­stel­len, dass die Stu­di­en­fach­wahl nicht nur sozia­le Ver­hält­nis­se, son­dern auch Rol­len­bil­der immer repro­du­ziert. Und natür­lich gibt es zwi­schen die­sen Diver­si­täts­fak­to­ren auch Ver­bin­dun­gen. Hier ist Inter­sek­tio­na­li­tät im Spiel, das bedeu­tet: Alle Kate­go­rien von Diver­si­tät und damit auch alle Kate­go­rien von Dis­kri­mi­nie­rung sind mit­ein­an­der ver­floch­ten. Das macht es nicht gera­de ein­fa­cher, sich die ein­zel­nen Kate­go­rien bewusst zu machen, Diver­si­tät zu leben und Dis­kri­mi­nie­rung zu ver­mei­den. 

 

Sprache kann exkludierend wirken

 

Gera­de das Ver­mei­den von Dis­kri­mi­nie­rung ist ein wei­tes Feld. Ich bin der Mei­nung, dass unse­re Spra­che maß­geb­lich unser Han­deln, unse­ren Umgang mit­ein­an­der prägt. Es lohnt sich, direkt hier anzu­set­zen. Beschimp­fun­gen zu ver­mei­den, die z. B. auf Geschlecht, Sexua­li­tät, Behin­de­rung, sozia­le Her­kunft uvm. abzie­len, ist ein Anfang. Aber es gibt auch weni­ger offen­sicht­li­che sprach­li­che Phä­no­me­ne, die kei­ne Belei­di­gung sind, aber trotz­dem exklu­die­rend wir­ken. Z. B. das gene­ri­sche Mas­ku­li­num, um ein pro­mi­nen­tes Bei­spiel zu nen­nen. 

 

Im Bereich sozia­le Diver­si­tät sind es vor allem Wör­ter und Phra­sen, die z. T. abso­lut fest in unse­rer all­täg­li­chen Spra­che ver­an­kert sind. Neben klas­sis­ti­schen Belei­di­gun­gen wie „Proll“ gibt es auch eini­ge sub­ti­le­re Bei­spie­le: 

  • zu jmd. auf­schau­en (im Kon­text Habitus/Geld/Stand)  
  • auf jmd. hin­ab­schau­en 
  • sozia­ler Abstieg 
  • sozia­ler Auf­stieg  
  • Bil­dungs­auf­stieg
  • Unter­ge­be­ner, Unter­ge­be­ne (statt Mit­ar­bei­ter, Mit­ar­bei­te­rin)   
  • Unter­schicht 
  • bil­dungs­fern   
  • Hartz-4-TV/Hartz-4-Fern­se­hen

Das sind alles sprach­li­che Struk­tu­ren, die ein „unten“ und ein „oben“ kon­stru­ie­ren und aka­de­mi­sche Bil­dung mit Bil­dung im All­ge­mei­nen gleich­set­zen. Mache davon sind nega­tiv kon­no­tiert: 

 

Man­che wer­den gemein­hin als abso­lut posi­tiv ver­stan­den. Das sind Wör­ter, die wir alle sicher­lich dann und wann ohne Beden­ken ver­wen­den. Ein Bei­spiel: „Bil­dungs­auf­stieg“. Nichtakademiker:innenkinder, die in die Aka­de­mia auf­stei­gen – das Nar­ra­tiv impli­ziert, dass die sozia­le Her­kunft als „unten“ defi­niert wird, wäh­rend das Akademiker:innenleben „oben“ statt­fin­det. Hier wer­den unter­schied­li­che sozia­le und Bil­dungs­hin­ter­grün­de impli­zit gewer­tet und ein mög­lichst hoher Bil­dungs­ab­schluss als Ide­al-Zustand fest­ge­legt. Ähn­lich ver­hält es sich mit „zu jeman­dem auf­schau­en“ als Syn­onym für „jeman­den bewun­dern“. Auch hier wird sprach­lich ein Gefäl­le kon­stru­iert – der eige­ne Ist-Zustand gegen einen „höhe­ren“, bes­se­ren Zustand, in der Regel an Bil­dung, Geld oder gesell­schaft­lich erwünsch­ten Fähig­kei­ten gemes­sen. 

 

Kei­nes­wegs posi­tiv besetzt sind hin­ge­gen Wör­ter wie „Unter­schicht“. Eigent­lich geht es beim „Schich­ten­mo­dell“ um Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­schich­ten. Bezeich­nun­gen wie „ein­kom­mens­ar­me Schicht“ reflek­tie­ren genau das. „Unter­schicht“ und „Ober­schicht“ hin­ge­gen brin­gen wie­der eine Wer­tung ins Spiel – „viel Geld = oben = posi­ti­ve Kon­no­ta­ti­on“ und „wenig Geld = unten = nega­ti­ve Kon­no­ta­ti­on“.  

 

So unterschiedlich die genannten Beispiele sind, haben sie doch alle eins gemein: Sie sind klassistisch.

 

Hier ist Sen­si­bi­li­sie­rung wich­tig. Es muss ein Bewusst­sein dafür geschaf­fen wer­den, dass Men­schen auf­grund ihrer sozia­len Her­kunft struk­tu­rell dis­kri­mi­niert wer­den. Das geschieht nicht von heu­te auf mor­gen. Und auch wenn, gibt es immer noch das Pro­blem, dass guter Wil­le nicht reicht. Inklu­siv zu kom­mu­ni­zie­ren, ist nicht ein­fach. Es gibt viel zu beach­ten. Gera­de im Beruf ist es sinn­voll, alle rele­van­ten Wör­ter, Phra­sen und sons­ti­gen Regeln zu kon­so­li­die­ren und zusam­men­zu­schrei­ben. Das hilft schon ein­mal. Und bei der kon­kre­ten Umset­zung kann Soft­ware eine gro­ße Hil­fe sein (mehr Infos: https://www.congree.com/diversity-gendergerecht).  

Ins­ge­samt gilt es aber, erst ein­mal anzu­fan­gen. Spra­che schafft Wirk­lich­keit – und jeder Schritt in Rich­tung Inklu­si­on und weg von Dis­kri­mi­nie­rung ist wich­tig.