Vom Bauchgefühl zum Unconscious Bias

Im (Arbeits-)Alltag tref­fen wir stän­dig unbe­wuss­te Ent­schei­dun­gen und durch­le­ben rou­ti­nier­te Hand­lungs­ab­läu­fe. Das beginnt mit dem mor­gend­li­chen Gang zur Kaf­fee­ma­schi­ne, dem Hoch­fah­ren des Com­pu­ters bis hin zur wie von selbst getipp­ten Gruß­for­mel in einer E‑Mail. Die­se unbe­wuss­ten Abläu­fe (in der Lin­gu­is­tik spre­chen wir von „Scripts“) basie­ren auf unse­ren bis­he­ri­gen Erfah­run­gen. Sie ent­las­ten unser Gehirn und sind not­wen­dig, damit wir im All­tag über­haupt funk­tio­nie­ren kön­nen. So kön­nen wir in neu­en Situa­tio­nen auf unser Wis­sen aus der Ver­gan­gen­heit zurück­grei­fen und mit­hil­fe die­ser Vor-Urtei­le (als Vor­ab-Urtei­le) sehr schnell zu einer ers­ten Ein­schät­zung der Lage kom­men. Doch die­se Vor-Urtei­le kön­nen sich auch ver­fes­ti­gen: Zu „Vor­ur­tei­len“ im bekann­ten Wort­sinn, zu Ste­reo­ty­pen und Vor­ein­ge­nom­men­hei­ten – ohne, dass uns das bewusst ist.

Unconscious Bias in Wissenschaft und Wirtschaft 

Die­se Vor­ein­ge­nom­men­hei­ten, die zu einer Ver­zer­rung unse­rer Wahr­neh­mung füh­ren, nen­nen wir „Uncon­scious Bias“. Über 55 die­ser Bia­ses hat der Mensch, und zwar prin­zi­pi­ell jeder – egal wel­chen Geschlechts oder wel­cher Her­kunft. Sie kön­nen auf per­sön­li­cher Ebe­ne, aber auch in Orga­ni­sa­ti­ons­kul­tu­ren ver­an­kert sein und somit zu Ver­zer­run­gen bei der Beur­tei­lung von Men­schen bis hin zur Dis­kri­mi­nie­rung im Arbeits­kon­text füh­ren. Die Aus­wir­kun­gen des Uncon­scious Bias wer­den von den meis­ten Orga­ni­sa­tio­nen im Arbeits­all­tag dras­tisch unter­schätzt (Wond­rak 2014). Vie­le Men­schen glau­ben, dass unbe­wuss­te Denk­mus­ter nur gerin­gen Ein­fluss haben. Bereits ein Bias im Recrui­ting-Team von nur 1% führt jedoch dazu, dass der Frau­en­an­teil in der höchs­ten Hier­ar­chie­ebe­ne einer Orga­ni­sa­ti­on um 35% sinkt. An deut­schen Hoch­schu­len sind der­zeit rund 24% der Pro­fes­su­ren mit Frau­en besetzt. Dies liegt unter ande­rem dar­an, dass unbe­wuss­te Vor­ur­tei­le in Ent­schei­dungs­gre­mi­en, Bewer­tun­gen von Lebens­läu­fen oder Grup­pen­dy­na­mik bei Beru­fungs­ver­fah­ren eine Rol­le spie­len. In der Rechts­wis­sen­schaft gibt es z.B. nur 16% Pro­fes­so­rin­nen – rein sta­tis­tisch müss­te der Anteil jedoch bei 30% liegen. 

Alte Denk­mus­ter müs­sen also kri­tisch hin­ter­fragt und neue gestärkt wer­den, um mit den Unter­schie­den zwi­schen Men­schen kom­pe­tent umzu­ge­hen. Daher möch­te ich eini­ge Bia­ses im Fol­gen­den beleuch­ten und prak­ti­sche Hand­lungs­emp­feh­lun­gen zum Umgang damit an die Hand geben – ganz im Sin­ne des Mot­tos zum dies­jäh­ri­gen Welt­frau­en­tag: Break the Bias! 

Male Bias: Der Mann als Experte und als „Prototyp Mensch“ 

Der Male Bias bedeu­tet, dass abhän­gig vom Geschlecht unter­schied­li­che Prä­fe­ren­zen und Kom­pe­ten­zen zuge­schrie­ben wer­den. Typi­sche Vor­ur­tei­le sind beispielweise: 

  • Män­ner als Chef und Exper­te 
  • Anteil der Team­work­ar­beit wird sel­te­ner Frau­en zugeschrieben 
  • For­sches Autre­ten von Frau­en wird als bos­sy / pushy bewer­tet 
  • Müt­ter wer­den per se als weni­ger fle­xi­bel und unam­bi­tio­niert eingeordnet 

 

Da Män­ner als „Exper­ten“ gel­ten, wird ihnen u.a. in Fol­ge auch eine höhe­re wis­sen­schaft­li­che Qua­li­tät unter­stellt. Dabei führt die wis­sen­schaft­li­che Pra­xis, bei der Lite­ra­tur­an­ga­be von wis­sen­schaft­li­chen Papern bloß Initia­len statt voll­stän­di­ger Namen zu ver­wen­den, dazu, dass Wis­sen­schaft­le­rin­nen häu­fig für Män­ner gehal­ten wer­den. Zudem haben Stu­di­en erge­ben, dass Frau­en sys­te­ma­tisch weni­ger zitiert wer­den als Män­ner (dies führt zum soge­nann­ten Cita­ti­on Gap). Vor allem Män­ner haben in den letz­ten 20 Jah­ren zu 70% häu­fi­ger Män­ner als Frau­en zitiert – sie zitier­ten Frau­en nur dann häu­fi­ger, wenn sie die Initia­len falsch inter­pre­tier­ten und sie für Män­ner hielten. 

Ein wei­te­rer Effekt des Male Bias wird in unse­rer Spra­che sicht­bar, und zwar im soge­nann­ten „gene­ri­schen Mas­ku­li­num“: Bei gemischt­ge­schlecht­li­chen Grup­pen wird die männ­li­che Form ver­wen­det, die alle anspre­chen soll. Das Argu­ment, das gene­ri­sche Mas­ku­li­num sei “geschlechts­abs­tra­hie­rend” und adres­sie­re alle Geschlech­ter, ist nicht halt­bar. Empi­ri­sche Stu­di­en zei­gen, dass die­se Form häu­fig eben nicht geschlechts­über­grei­fend inter­pre­tiert wird, son­dern einen Male Bias trägt. Männ­li­che sprach­li­che For­men rufen in unse­ren Köp­fen über­wie­gend men­ta­le Reprä­sen­ta­tio­nen von männ­li­chen Per­so­nen­her­vor. Wur­den Stu­di­en­teil­neh­men­de etwa nach berühm­ten Musi­kern oder Wis­sen­schaft­lern gefragt, nann­ten sie signi­fi­kant häu­fi­ger männ­li­che Per­so­nen, als wenn nach Musi­ke­rin­nen und Musi­kern gefragt wur­de. Das gene­ri­sche Mas­ku­li­num ist ein Spie­gel sozia­ler Nor­men, die lan­ge gal­ten – aber unse­re heu­ti­ge Gesell­schaft nicht mehr adäquat repräsentieren. 

Affinity Bias: Die Tendenz zum „Mini-Me“ 

Der Affi­ni­ty Bias ist ein Mecha­nis­mus, der dafür sorgt, dass wir uns eher wohl­füh­len im Kon­takt mit Per­so­nen, die grö­ße­re Ähn­lich­kei­ten mit uns auf­zu­wei­sen schei­nen, etwa auf­grund ihrer Geschlechts­zu­ge­hö­rig­keit, ihres Alters, ihrer sozia­len Her­kunft oder Eth­ni­zi­tät. Das liegt dar­an, dass es uns leich­ter fällt, uns mit ihnen zu iden­ti­fi­zie­ren, als mit Men­schen, die uns selbst weni­ger ähn­lich sind (vgl. McPher­son, Smith-Lovin, & Cook 2001). Auto­ma­tisch stel­len wir uns in der Kaf­fee­pau­se eher zu den Men­schen, die uns irgend­wie ähneln. Die­ser Bias wird auch als „Mini-Me-Effekt“ bezeich­net, da wir Minia­tur­ver­sio­nen von uns selbst bevor­zu­gen. Dies kommt bei­spiels­wei­se im pro­fes­sio­nel­len Kon­text auch bei Per­so­nal­aus­wahl­ver­fah­ren und Erfah­rungs­be­wer­tun­gen vor. Men­schen nei­gen dazu, Minia­tur­ver­sio­nen von sich bei der Beset­zung von offe­nen Stel­len zu bevor­zu­gen, die aus einem „sozi­al ähn­li­chen“ Kon­text kom­men (bzgl. Geschlecht, Alter, Her­kunft und Aus­bil­dung) – dies hat den ein­gän­gi­gen Aus­druck „pale, male, Yale“ geprägt. Es ist eine gro­ße Her­aus­for­de­rung für alle Füh­rungs­kräf­te, der natür­li­chen Ten­denz zu wider­ste­hen, „Mini-Mes“ ein­zu­stel­len, so Jani­na Kugel, ehe­ma­li­ge Sie­mens-Per­so­nal­vor­stän­din, die bereits früh auf ent­spre­chen­de Trai­nings für Füh­rungs­kräf­te oder das Recrui­ting setzte. 

Confirmation Bias – Vergessen Sie, was Sie schon wissen! 

Der Con­fir­ma­ti­on Bias (“Bestä­ti­gungs­feh­ler”) bezeich­net die Nei­gung, Infor­ma­tio­nen so aus­zu­wäh­len und zu inter­pre­tie­ren, dass sie auf den eige­nen Wün­schen, Über­zeu­gun­gen und Vor­ur­tei­len beru­hen. Dies kann bei der Ein­stel­lung von Mitarbeiter:innen schon zu Beginn des Pro­zes­ses eine Rol­le spie­len, wenn beim Durch­se­hen der Lebens­läu­fe ers­te Mei­nun­gen über die Kandidat:innen geäu­ßert wer­den, die auf Infor­ma­tio­nen wie Namen, Her­kunft, Schul­bil­dung usw. beru­hen. Neue Infor­ma­tio­nen, die im Wider­spruch zu unse­ren bestehen­den Über­zeu­gun­gen ste­hen, fil­tern wir näm­lich lie­ber aus, wenn wir Per­so­nen oder Lebens­be­rei­che bewer­ten. Kolum­nist und Uncon­scious-Bias-Exper­te Rolf Dobel­li bezeich­net den Con­fir­ma­ti­on Bias als den „Vater aller Bia­ses“ (Ach­tung, Male Bias!). Um dem Con­fir­ma­ti­on Bias ent­ge­gen­zu­wir­ken, kön­nen wir bewusst nach Dis­con­fir­ming Evi­dence, also wider­le­gen­den Hin­wei­sen, suchen.

Der Halo-Effekt: Warum Sie sich davon nicht blenden lassen sollten 

Der Halo-Effekt führt eine wei­te­re Art von kogni­ti­ver Ver­zer­rung ein: Basie­rend auf einem all­ge­mei­nen posi­ti­ven Ein­druck von einer Per­son oder ihrer Kom­pe­tenz in einem bestimm­ten Bereich besteht die unge­recht­fer­tig­te Ten­denz, anzu­neh­men, dass sie über eben­sol­che Fähig­kei­ten in ande­ren Berei­chen ver­fügt (Bal­zer & Sulsky, 1992). Wir las­sen uns also von einem Aspekt blen­den und schlie­ßen aus­ge­hend davon auf das Gesamt­bild (Dobel­li 2001). Für Beru­fungs­kom­mis­sio­nen an Hoch­schu­len kann das bedeu­ten, dass bestimm­te Bewer­bun­gen, die einen guten Gesamt­ein­druck machen oder aus der Per­spek­ti­ve eines ein­zel­nen Bewer­tungs­kri­te­ri­ums beson­ders exzel­lent schei­nen, ins­ge­samt güns­ti­ger beur­teilt wer­den, bsp. eine lan­ge Publi­ka­ti­ons- oder Lehr­ver­an­stal­tungs­lis­te. Am bes­ten erforscht ist der Halo-Effekt jedoch im Bereich “kör­per­li­che Attrak­ti­vi­tät”: Wir neh­men “schö­ne” Men­schen auto­ma­tisch als net­ter, ehr­li­cher und intel­li­gen­ter wahr. Dies lässt sich bereits in Schu­len nach­wei­sen, in denen Lehrer:innen unbe­wusst bes­se­re Noten an gut­aus­se­hen­de Schüler:innen ver­ge­ben, und zieht sich bis in die Berufs­welt, in der attrak­ti­ve Men­schen leich­ter Kar­rie­re machen (Dobel­li 2001). Die Wer­bung mach sich den Halo-Effekt zunut­ze, indem pro­mi­nen­te Per­so­nen als Tes­ti­mo­ni­al zur Ver­fü­gung ste­hen – wenn Geor­ge Cloo­ney die­sen Kaf­fee trinkt, muss er ja gut sein. Oder sind es doch die Bei­ne von Hei­di Klum, die so glatt rasiert wur­den (ich weiß es lei­der ehr­lich nicht mehr)? 

Der Halo-Effekt kann zu Ste­reo­ty­pi­sie­rung füh­ren, wenn dadurch bei­spiels­wei­se Geschlecht, sozia­le oder eth­ni­sche Her­kunft zum domi­nie­ren­den Merk­mal wer­den. Er kann uns zu unbe­wuss­ten Rassist:innen oder Sexist:innen machen. Ein Bei­spiel, das auch Caro­li­ne Cria­do-Perez in ihrem Buch „Unsicht­ba­re Frau­en“ (2020) anführt: Im 20. Jahr­hun­dert gehör­ten den New Yor­ker Phil­har­mo­ni­kern fast kei­ne Musi­ke­rin­nen an. Auch in den 50ern und 60ern wur­den nur weni­ge Frau­en ein­ge­stellt und ihr Anteil blieb fast bei null. Ab den 70ern änder­te sich jedoch etwas und die Zah­len der Musi­ke­rin­nen stie­gen kon­ti­nu­ier­lich an. War­um? Das “blin­de Vor­spie­len” wur­de ein­ge­führt. Nach einer gericht­li­chen Kla­ge wur­de beschlos­sen, dass die Aus­wahl­kom­mis­si­on die Bewerber:innen nicht sehen kann. Eine Trenn­wand ver­deck­te nun die Sicht auf die Vor­spie­len­den. Das Ver­fah­ren zeig­te sofort Wir­kung, da bereits in den frü­hen 80ern Frau­en bis zu 50% der Neu­ein­stel­lun­gen aus­mach­ten. Heu­te liegt der Frau­en­an­teil in der New Yor­ker Phil­har­mo­nie bei über 45%. 

Fazit: Break the Bias! 

Break the Bias: Das ist nicht immer ein­fach. Aber Viel­falts­kom­pe­tenz ist die Schlüs­sel­qua­li­fi­ka­ti­on der Zukunft, die hilft, mit Unter­schie­den zwi­schen Men­schen kom­pe­tent umzu­ge­hen, ohne sie in Schub­la­den ein­zu­ord­nen. Und das sorgt nicht nur für eine gerech­te­re Gesell­schaft, son­dern lohnt sich auch für Orga­ni­sa­tio­nen. Denn bunt gemisch­te Teams arbei­ten krea­ti­ver, inno­va­ti­ver und erfolg­rei­cher (und sind auch manch­mal dis­kus­si­ons­in­ten­si­ver, das kann ich aus eige­ner Erfah­rung sagen 😊)! Um euch den Weg in die Umset­zung zu erleich­tern, habe ich abschlie­ßend eini­ge Hand­lungs­emp­feh­lun­gen zusammengestellt: 

  • Ver­wen­det gen­der­ge­rech­te und inklu­si­ve Spra­che, v.a. in Text­sor­ten wie Stel­len­an­zei­gen oder Kar­rie­re­sei­ten. Mehr dazu habe ich in 7 Gedan­ken zu gen­der­ge­rech­ten Stel­len­an­zei­gen (humanresourcesmanager.de) zusammengefasst 
  • Schaut genau hin: Um dem Halo-Effekt zu ent­ge­hen, müs­sen wir das eine, den Ein­druck bestim­men­de Merk­mal ausklammern. 
  • Bist du Recruiter:in? For­der­ne Bewerber:innen zu daten­ar­men Bewer­bun­gen auf, so kannst du bei Sich­tung des Lebens­laufs und Bewer­tung der Leis­tun­gen Fak­to­ren wie Geschlecht oder Her­kunft aus­blen­den. Auch der Ein­satz von KI kann hel­fen – sofern die KI selbst ohne Bias trai­niert wurde. 
  • Quo­ten­re­ge­lun­gen! Sie sind das wirk­sams­te Mit­tel, um mit Uncon­scious Bia­ses zu brechen. 
  • Führt ver­pflich­ten­de Uncon­scious-Bias-Trai­nings für alle Füh­rungs­kräf­te ein – eure Teams wer­den euch das danken! 

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Leseempfehlungen: 

Rolf Dobel­li: Die Kunst des kla­ren Den­kens. Han­ser 2011 

Caro­li­ne Cria­do-Perez: Unsicht­ba­re Frau­en. Wie eine von Daten beherrsch­te Welt die Hälf­te der Bevöl­ke­rung igno­riert. Btb 2020.