Zugegeben, die politischen Sommerinterviews haben mich nie vom Hocker gerissen, auch wenn sie stets ob ihrer inszenierten Konfrontativität meets Berliner Sommerbrise teilweise amüsant waren. Doch die vielen Tweets und Artikel zum angeblichen „Sexismus“ beim Baerbock-Interview gewannen dann doch meine Aufmerksamkeit, sodass ich gestern Abend alle 3 Interviews von gut je 30 Minuten durchstreamte: Baerbock, Scholz, Laschet. Das Ergebnis: Diverse linguistische Marker zeigen, dass sich das Interview mit Baerbock stark von den beiden anderen unterschied und die Frage nach der Rolle einer diskriminierenden Moderation durch Tina Hassel durchaus gerechtfertigt ist.
Die folgende linguistische Analyse soll sprachliches Verhalten und dessen Wirkung besser objektivierbar und damit verständlich machen – ebenso wie die Verantwortung, die hier einer Moderation obliegt. Es sind dabei 2 Ebenen zu beachten: erstens das Verhalten der Moderatorin Tina Hassel bei den drei Interviews und zweitens die Rezeption durch das Publikum, die auch durch Faktoren wie Körpersprache, Schnitte oder Wahl des Drehorts beeinflusst wird.
Grundsätzlich ist beim Kommunikationsformat “Sommerinterview” bekannt, dass dies durch eine konfrontative Gesprächshaltung gekennzeichnet ist, in der die Kandidat*innen zu aktuellen Vorfällen (z.B. Afghanistan) und ihrem Wahlprogramm sowie Fokusthemen Stellung nehmen und kleinere Angriffe verkraften müssen (Sind Sie in der falschen Partei?). Zudem wurde 2021 ein Live-Statement einer „realen“ Person eingespielt, die eine Bitte oder einen Vorwurf direkt gen Kanzlerkandidat*in richten kann, auf den Stellung genommen werden muss. Aufgelockert wird dieses recht strenge Kommunikationsformat eigentlich durch die Wahl des Drehorts: das Open-Air-Setting wird bei Olaf Scholz wie auch Armin Laschet vor dem Berliner Regierungsviertel realisiert (Schiffe fahren im Hintergrund auf der Spree, vorhandene Haare tanzen im Wind, Licht strahlt ein) – alles Stilmittel, welche die schweren Inhalte auflockern.
Beim Interview mit Annalena Baerbock kann dieses Setting aufgrund des schlechten Wetters am Drehtag nicht realisiert werden und das Gespräch findet in einem puristisch ausgeleuchteten Studio statt – interessant ist dabei aber vor allem der Sitzabstand der beiden Protagonistinnen, der fast doppelt so weit ausfällt wie im Freien bei Laschet und Scholz. Corona dürfte hier die Auslöserin sein, dennoch ergibt sich möglicherweise daraus schon eine andere Gesprächsstimmung für das Publikum. Zudem wird mit 2 Schnitten bei der Begrüßung und Verabschiedung gearbeitet. Die Schnitte sind deswegen diskussionswürdig, da durch diese der Eindruck entsteht, Hassel begrüße Baerbock weder, noch danke sie ihr ernsthaft für das Interview nach gut 30 Minuten. Begrüßung und wertschätzender Dank sind klassische strukturelle Merkmale von Interviews – werden sie nicht realisiert, entsteht ein Bruch im Bereich Höflichkeit für das Publikum. Es ist wahrscheinlich, dass Begrüßung/Dank nur durch den Schnitt eliminiert wurden. Hier entsteht jedoch definitiv das erste irritierende Moment für die Rezipient*innen.
Eine gewichtige Rolle spielt in jeder Kommunikationssituation auch die Einführung des Gastes, denn hier hat die Moderation die Macht über den sogenannten Rahmen („Frame“), mit dem das Gespräch eröffnet wird. Sie kann Fakten über ihr Gegenüber besonders betonen, in ein spezielles Licht rücken oder gar einfach weglassen. Zudem kann sie entscheiden, ob sie über das Gegenüber spricht (Meta-Ebene) oder mit ihm (dialogische Ebene). Die dialogische Einführung wird überwiegend bei Laschet und Scholz gewählt (Herr Laschet/Herr Scholz, Sie haben…), während bei Baerbock eine Meta-Einführung geschieht (Wen begrüße ich hier eigentlich? Wir haben hier Annalena Baerbock…). Wie dem Zitat zu entnehmen ist, wird die Vorstellungssequenz nicht gemeinsam mit Baerbock, sondern über sie redend, realisiert, sodass dadurch kommunikative Distanz erzeugt und sie nicht ins Gespräch integriert wird. Dieser Eindruck verstärkt sich, indem die Vorstellungssequenz bei Baerbock insgesamt fast doppelt so lang ist wie bei Laschet und Scholz. Die Entscheidung darüber, wer wann und wie lange reden darf, steuert kommunikative Machtpositionen in Gesprächen, und vor allem, wem diese Entscheidung zuteil wird. In diesem Falle: Tina Hassel. Wie bereits beschrieben, wird kommunikative Macht auch genutzt, um zu entscheiden, was gesagt wird und was nicht. Im Falle Laschet und Scholz werden deren aktuelle Titel, Rollen, vergangene Erfolge etc. in erwartungsreicher Manier präsentiert (wenn auch gespickt mit Seitenhieben); bei Baerbock jedoch wird die Vorstellung vor allem auf die sinkenden Umfragewerte und persönliche „Verfehlungen“ (Autor*innenschaft von Buchpassagen, Grünen-Wahlliste im Saarland etc.) zugespitzt. Hier entsteht das zweite irritierende Moment, da die Kandidatin bereits vorab in ein negatives Licht gerückt wird. Gängige Höflichkeitsnormen würden erwarten lassen, dass zumindest zu Beginn eine neutrale Begrüßung stattfindet.
Im Netz wurde vor allem diese Passage als Ausdruck der sexistischen Haltung gegenüber Baerbock interpretiert – durchaus lässt sich hier von einer starken Verschiebung der sprachlichen Perspektivierung sprechen: die Kandidatin wird besonders in einem Ausschnitt ihres politischen Wirkens portraitiert, nämlich ihrer vermeintlichen Fehler, die bei den anderen beiden Kandidaten im Intro und während des Interviews ausgespart werden (Scholz wurde bspw. nicht über den Cum-Ex-Skandal befragt). Diese inhaltliche Fokussierung auf Negatives wird weiterhin bestärkt durch die Frage Hassels, ob sich Baerbock überhaupt noch als Kanzlerkandidatin sehe. Die Legitimation, mit der Baerbock überhaupt ins Gespräch eingeladen wurde, wird somit zu Beginn des Gesprächs bereits durch Hassel angezweifelt.
Das Wort Kanzlerkandidatin verwendet Hassel übrigens nicht durchgängig, sondern spricht meist von Kandidat oder Kanzlerkandidat, auch in direkter Antwortsequenz auf Baerbock, die das feminine Kanzlerkandidatin nutzt. Diese Tatsache ist linguistisch interessant, da Gesprächssequenzen oft durch sogenanntes Mirroring geprägt sind, wenn Personen sich sympathisch sind und Gesprächsbeiträge der anderen Person „spiegeln“ (durch Aufnahme von Wörtern der anderen Person in den eigenen Gesprächsbeitrag). Hassel tut dies nicht und grenzt sich somit sprachlich explizit ab, was aufmerksamen Rezipient*innen nicht verborgen bleibt.
Weitere besonders interessante linguistische Marker sind die Folgenden:
- Unterbrechungen: Baerbock wird in ihren Antworten 3x mal so oft wie Laschet und Scholz von Hassel unterbrochen, und dies nicht in ihren Fade-out-Sequenzen, wo dies kommunikativ noch angemessener wäre, da eine Aussage dem Ende zugeht. An inhaltlich markanten Stellen fällt Hassel ihr ins Wort und lässt damit inhaltliche Punkte nicht zu, was ein Zeichen von kommunikativer Überordnung durch das Silencing (Verstummen) von Baerbock ist. Das Unterbrechen wird in der Stilistik als unhöflich beschrieben, in der Genderlinguistik als „männliches Merkmal“, was in weiblich-weiblicher Kommunikation seltener auftritt, weshalb dieser Befund an dieser Stelle besonders interessant ist, vor allem im Vergleich zu den zurückhaltenderen Unterbrechungsversuchen Hassels bei Laschet und Scholz. Jedoch bedienen sich letztere auch beide des Simultansprechens, d.h. sie reden trotz der Unterbrechungsversuche von Hassel einfach parallel weiter, was Baerbock unterlässt.
- Bewertungen: Baerbocks Antworten werden häufiger von Hassel wertend kommentiert (das hatten wir schon, Sie wollen sich dazu also nicht äußern). Baerbock wird durch diese Zitate Hassels als ungenau, redundant oder verschlossen dargestellt. Die Kommentarfunktion in einer Moderation dient eigentlich dazu, einen roten Faden für das Publikum herzustellen; allerdings ist eine neutrale Stilistik in einer politischen Moderation eher zu beobachten, da die Moderation die Inhalte bündeln, reihen oder kontrastieren soll, nicht aber in ihrer inhaltlichen Wertigkeit beurteilen.
- Zeitmarker: Baerbock wird mehrmals an die Zeit/Länge ihrer Antworten oder des gesamten Interviews erinnert (im Netz u.a. als „Oberlehrerin Hassel“ kommentiert), was in Moderationen gängig ist, jedoch in diesem Fall bei Baerbock im Vergleich zu Scholz und Laschet am häufigsten auftritt. Dies könnte möglicherweise auch daran liegen kann, dass ihre Antworten im Schnitt länger sind als diejenigen von Laschet und Scholz. Auch interessant ist Folgendes: Die erste Interviewsequenz über die Person geht bei Baerbock am längsten, ca. 4:40 min, bei Scholz: 1:40, bei Laschet: 3:00. Von diesen 4:40 min bei Baerbock nutzt Tina Hassel jedoch selbst knapp über ein Drittel für ihre Fragen und eine damit verbundene negative Vorstellung der Persona Baerbock, was deutlich mehr als bei Laschet und Scholz ist (jeweils ca. 20 %).
- Inhaltsfokus: Baerbocks Antworten sind, wie gesagt, quantitativ länger, aber auch inhaltlich anders gelagert. Sie holt zu keinem Gegenangriff aus (wie bspw. Scholz, der auf die Frage Hassels, wie oft ein das Wort „Respekt“ im Wahlprogramm auftritt, kontert, sie würde es ihm sicher gleich verraten), sondern nimmt die verbalen Einwürfe rechtfertigend beim Wort, auch auf die Frage hin, ob sie nicht nach Habeck die unbeliebtere Kandidatin sei. Möglicherweise ergibt sich daraus auch eine Gesprächsdynamik, in welcher Hassel sich weiter in die Provokation „traut“.
- Mimik & Gestik: Insgesamt lächelt Hassel bei Baerbock weniger, wirkt insgesamt angespannter, auch durch das starke Ablesen ihrer Fragen, was ein mimisch auffälliges Zeichen für das Publikum darstellt. Insgesamt ungewöhnlich ist jedoch in allen drei Interviews, dass Tina Hassel mit Din-A-4-Papierseiten arbeitet und nicht mit gängigeren Moderationskarten.
- Conclusio: Schlussfragen dienen in der Rhetorik oder Stilistik normalerweise dazu, den Protagonist*innen nochmals Raum für ihre Persönlichkeit, ihre Thesen oder einen Blick über den Tellerrand/in die Zukunft zu geben und werden daher meist relativ offen gestellt – daher verwundert die Frage an Baerbock mit einer negativen Unterstellung: Wie Baerbock es ihren Kindern erkläre, wenn die Grünen durch Baerbocks Verfehlungen die Wahl verlieren würden? Diese Frage ist auf zwei Ebenen kritisch zu betrachten: erstens wegen der negativen, persönlichen Unterstellung, die Handlungen einer Politikerin hätten Konsequenzen für die gesamte Partei; zweitens aufgrund des vermehrten Ansprechens der Privatsphäre / Kinderbetreuung / Kinderlosigkeit vor allem bei Politikerinnen, die als ungleiche Behandlung wahrgenommen wird. Weder bei Laschet noch Scholz wird das Thema „Kinder“ angesprochen. Zusätzlich wird Baerbock in der Mitte des Interviews gefragt, ob sie auch privat gendere. Das Image der zweifachen Mutter und der Frau per se („Frau, die mitten im Leben steht“), wurde von Baerbock allerdings gezielt im Vorfeld medial genährt; auch in diesem Interview verweist sie selbst zweimal darauf zu Beginn. Baerbock gibt sich nahbarer, offener, moderner. Dennoch bedeutet dies nicht, dass sie nicht primär in einer fachlichen Rolle auftritt. Die Menge an Fragen von Hassel, die in den Bereich des Privaten abzielen, wirken daher deplatziert und verschieben den Fokus weg vom fachlichen Können; ebenfalls Fragen zu ihren Gefühlen („Was nervt an einer Doppelspitze?“) werden nur an sie gestellt. Diese Fragen triggern allzusehr ein klassisches Frauenbild, das Frauen in der Öffentlichkeit noch zu oft zugeschrieben wird. Laschet wird übrigens als Schlusssequenz nach seinem Tipp für das Fußball-EM-Spiel gefragt, was ebenfalls fachlich deplatziert wirkt, nur Scholz bekommt die Frage nach seinen Prognosen für die Zeit nach der Wahl.
Diese Analyse konnte durch ausgewählte linguistische Marker objektiv beweisen, dass die Fragen an Baerbock wie auch die mögliche Wirkung auf die Rezipient*innen stark von denjenigen bei Laschet und Scholz abweichen. Dies ist ein Fakt. Wie dies zu bewerten ist, ist eine andere Sache. In der Online-Diskussion werden gerade die Eingangs- und die letzte Frage als besonders frauenfeindlich und unprofessionell interpretiert. Es stimmt leider, dass die finale Frage den zu Beginn geschaffenen Rahmen des Gesprächs fortsetzt, dass Annalena Baerbock keine richtige Kanzlerkandidatin sei bzw. die Wahl verlieren würde. Die permanenten Unterbrechungen und Wertungen sorgen zudem für keine neutrale Moderation.
Es scheint fast, als wolle sich Hassel bewusst politisch abgrenzen oder noch härter zu Baerbock sein, als zu allen anderen (möglicherweise weil ihr in der Vergangenheit eine Nähe zu den Grünen unterstellt wurde und ihre politische Neutralität angezweifelt wurde). Resümierend bleibt stehen, dass Inhaltlich, stilistisch und rhetorisch stark abweichendes Frage- und Interviewverhalten nachgewiesen wurde, was keinen objektiven Journalismus zugelassen hat